Barrierefreiheit ist nicht nur essenziell für Menschen mit Einschränkungen, sondern verbessert auch die allgemeine Benutzerfreundlichkeit von Apps oder Webseiten, indem sie z. B. Probleme wie das Fat-Finger-Problem auf Touchscreens adressiert. Die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG) bieten klare Richtlinien, die oft intuitiv mit guter Usability übereinstimmen, wie z. B. ausreichend große Buttons oder die Verwendung von Labels für Benutzereingaben.
Barrierefreiheit! Dieses Wort wird aktuell sehr häufig auf Folien genannt und in Meetings diskutiert. Grund dafür ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG), welches im Juni nächsten Jahres in Kraft treten und viele Firmen betreffen wird. Dieses Gesetz setzt eine europäische Richtlinie um, die zum ersten Mal in der Geschichte der EU Mindeststandards bei Barrierefreiheit vorschreibt. Dabei ist das Thema nicht so neu, wie der aktuelle Hype vermuten lässt: Eine erste Richtlinie, die das Thema für den öffentlichen Sektor verpflichtend machte, wurde bereits 2016 beschlossen. In manchen Fällen wurden „zufällig“ barrierefreie Designs umgesetzt, ohne dass es den Designern überhaupt bewusst war. Im Folgenden wollen wir uns anschauen, was Barrierefreiheit ist und wie der Begriff mit dem Thema Usability zusammenhängt.
Schätzungen zufolge leben rund 10 % der Weltbevölkerung mit einer Behinderung. Oftmals denken wir dabei an schwere Einschränkungen wie Blindheit, kognitive oder motorische Einschränkungen oder sogar Deformationen der Extremitäten. Dabei gibt es viele Möglichkeiten, wie ein Mensch in Laufe seines Lebens eingeschränkt sein kann: altersbedingte Einschränkungen, die sich im Laufe eines Lebens entwickeln, temporäre Einschränkungen wie ein gebrochener Arm oder eine Empfindlichkeit nach einer Augenoperation sind nur einige mögliche Fälle. So gut wie jeder Mensch wird im Laufe seines Lebens zumindest temporär mit einer oder mehreren Einschränkungen konfrontiert. Umso erstaunlicher ist es, dass das Design von Webseiten und Apps oft alles andere als barrierefrei ist, sondern sich oft ausschließlich an den Fähigkeiten eines komplett gesunden Menschen orientiert. Eine Ursache dafür liegt in den Ursprüngen des Internets, als vorwiegend auf textbasiertes Protokoll. Durch den technischen Fortschritt ergaben sich mit der Zeit zusätzliche Möglichkeiten für das Design und die Strukturierung von Webseiten. Bei der Umsetzung wurde vorwiegend darauf geachtet, dass Webseiten für die meisten Menschen gut nutzbar sind. Dies deckte folglich nur einen Teil der Bevölkerung ab. Dabei schließen sich Barrierefreiheit und gute Usability gar nicht aus. Ganz im Gegenteil!
Die inhaltliche Grundlage des BFSG bilden die Web Content Accessibility Guidelines (WCAG). Viele der darin beschriebenen Kriterien sind für Designer nichts Neues: Sie finden sich auf ähnliche Art und Weise in verschiedenen Standardwerken über Design wieder und sind im Designer-Alltag präsent. Die WCAG-Richtlinie 2.5.5 “Target Size” besagt exemplarisch, dass Ziele für Zeigereingaben (beispielsweise Buttons oder andere Bedienelemente auf die man Klicken soll) mindestens 44 x 44 CSS-Pixel groß sein müssen. Dies erscheint nicht nur intuitiv logisch und sinnvoll, sondern es gibt mehrere Phänomene aus dem UX-Bereich, die sich mit der Mindestgröße von Elementen beschäftigen. Das Fat-Finger-Problem beschreibt zum Beispiel das Verdecken der UI-Elemente auf Touchscreens durch die Finger des Anwenders. Diese Anforderung hat keinen direkten Bezug zu körperlichen Einschränkungen und gilt allgemein als sinnvoll im Sinne einer guten Benutzbarkeit.
Links sind die UI-Elemente groß genug, sodass der Benutzer klar erkennen kann, welches Element angeklickt wird. Auf der rechten Seite ist es unklar, welches Element die Eingabe erhält, da die Elemente so klein sind, dass beide gleichzeitig vom Cursor berührt werden. Ein weiteres Beispiel ist die Richtlinie 3.2.2 “Labels or Instructions”. Die Vorgabe lautet hier, dass immer dann, wenn Benutzereingaben gefordert sind, Labels oder Erklärungen vorhanden sein müssen. Diese Anforderung ist so grundlegend und simpel, dass sie vermutlich niemand der Barrierefreiheit zugeordnet hätte. Wie man sieht, sind die Themen Barrierefreiheit und Usability keine Gegenspieler. Oft ergänzen sich beide Themen und durch die Einhaltung bestimmter Barrierefreiheitsstandards wird die Usability auch für Nutzer verbessert, die nicht eingeschränkt sind.
Der Begriff Barrierefreiheit bereitet vielen Einrichtungen Kopfschmerzen und wird oft als Risiko gesehen. Viele Unternehmen befürchten derzeit Konsequenzen, wenn sie die Richtlinien nicht umsetzen. Dabei sollte der Fokus darauf liegen, welche Verbesserungen die Umsetzung der Richtlinien für die Nutzerinnen und Nutzer und somit auch für Unternehmen bringen kann. Die Anforderungen führen direkt zu einer Verbesserung der allgemeinen Benutzerfreundlichkeit. Zusätzlich wird Menschen mit Einschränkungen ebenfalls die Benutzung einer Anwendung ermöglicht, womit auch Unternehmen den Kreis ihrer potenziellen Anwender erweitern. Sollten bestehende Anwender mit einer temporären Einschränkung die Software nutzen wollen, werden sie sich sicherlich über ein barrierefreies Nutzererlebnis freuen und die Anwendung weiterempfehlen. Es gibt also viel Potenzial! Nutzen Sie die Chance!
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